Gehäuse (aus: „Poesie und Stille“)

Gehäuse (aus: „Poesie und Stille“)

Im Uhrgehäuse wohnen die Zahnräder, die Federn und Wellen. Im Uhrgehäuse wohnt auch die Unruh, die das Jetzt zum Vorbei macht. Im Kerngehäuse schlafen die Kerne, sie reifen. In Kernen reift die Frucht und in der Frucht die neuen Kerne. Im Kerngehäuse wächst im Jetzt das Später.

Im Gehäuse wohnt Hieronymus. Das Gehäuse nimmt sich ein Stück von der Welt und baut Wände darum, es grenzt die Welt aus. Keine Tür geht in die Welt, in der das Gehäuse steht, kein Fenster, durch das der Blick in die Welt geht. Hieronymus ißt nicht. Schläft er? Vielleicht ist das Gehäuse sein Schlaf. Atmet Hieronymus? Das Gehäuse ist seine Atmosphäre, die Decke der Himmel, der Boden Stein. Kein Wasser, kein Gras? Kein Gras. Hieronymus trinkt nicht. Kein Wald, keine Wildewelt. Alles, was ist im Gehäuse ist seine Vorstellung: die Bücher, der Tisch, die Haken in der Wand und die Utensilien daran. Aber der Löwe, der Löwe ist Welt, der Löwe ist wild. Der Löwe muß doch fressen! Der Löwe frißt auch nicht. Er ist die gefangene Natur des Hieronymus. In ihm ist das Wilde wie in einem Gehäuse, es dringt nicht in die Welt des Hieronymus. Bedroht der Löwe die Welt des Hieronymus? Er bedroht sie so, wie die Welt draußen vom Gehäuse des Hieronymus bedroht wird. Er ist ihr gefährlich, weil er in ihrem Inneren eingeschlossen ist. Der Löwe hat Zähne und Klauen. Hieronymus hat Bücher und einen Stift. Er klopft von innen gegen die Wand des Gehäuses? Nein, nein, Hieronymus klopft nicht nach uns. Es beunruhigt ihn, das der Löwe seine Wildheit nicht zeigt, daß er ganz still liegt. Es beunruhigt ihn mehr als wenn der Löwe durchs Gehäuse streifte. Denn so wie er da liegt, ist er der Leib der Vorläufigkeit. Hieronymus hat keinen Schrank und keine Truhe, das Gehäuse hat keine Häuslichkeit. Es ist kein Haus und keine Behausung. Ein Geviert mit Wänden ist es. Vorübergehend. Hieronymus bedroht uns, weil er nicht nach uns klopft?

So ein alter Mann sagen die Vorübergehenden als sie ihn sitzen sehen, so ganz allein in seinem Gehäuse mit den Weltutensilien, der sollte doch außerhäuslich betreut werden.

Poesie und Stille
Schriftstellerinnen schreiben in Klöstern
Hg. von der Klosterkammer Hannover
Wallstein-Verlag, Göttingen 2009
ISBN 978-3-8353-0460-4, Euro 14,90