Beiwächter (aus: „Türmer“)
Vater hatte mich mit einer kurzen Bewegung seines Kopfes zu sich ins Wohnzimmer gerufen. Jan, sagte er, während er am Fenster stand und hinaussah, willst du unbedingt da unten etwas anfangen? Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Was könnte ich machen, eine Lehre zum Schuster, hatte ich immer gedacht. Es würde mir gefallen, in meiner Werkstatt allein zu arbeiten. Die harten Sohlen, das weiche Leder. Die Verschiedenheit der Schuhe. Elegante Damenschuhe, in deren weiches Leder sich Überbeine und ein schiefer Gang eingedrückt hatten, und Kinderschuhe, die durch verbotene Reviere gekommen waren. Schuhe, die geliebt wurden, und plumpe, praktische Schuhe, die von ihren Trägerinnen verwünscht und heimlich mißhandelt wurden. Doch ich richtete sie wieder, und sie hielten noch eine Saison, bis es auch schon egal war. Als fast noch junger Mann einen krummen Rücken bekommen und schlechte Augen und schließlich ein letztes Paar Schuhe machen, das schon keiner mehr kauft. Reparaturen nicht mehr annehmen und nutzlos werden. Ich konnte mir fast jede Arbeit für mich vorstellen, weil es mich nicht stören würde, tagaus, tagein dasselbe zu tun. Vermutlich würde ich es auch gar nicht merken. Ob es unbedingt sein müßte, das anzufangen? Nein, mir war es nicht wichtig, das oder etwas anderes zu tun. Vater ließ mir Zeit für die Antwort. Was wollte er hören? Nein, sagte ich und wartete, was er mit dieser Antwort anfing. Gut, Jan. Du weißt, daß ich einen Beiwächter brauche. Sie haben mir schon einen zugeordnet. Ich will aber, daß du das machst. Es ist ohne die Kosten für den Beiwächter knapp genug. Er hatte also mittlerweile sogar die Instruktionen gelesen.
Vater wußte so gut wie ich, daß das bedeuten könnte, ich würde nichts Eigenes in meinem Leben mehr anfangen können, zu alt für etwas anderes sein, wenn ich hier wieder herunterkäme. Aber von unten hatten wir ein Gefühl mit heraufgenommen, daß, was man jetzt beginnen würde, nicht von Dauer wäre. Daß etwas geschehen würde, das alles umkehrt und die Lebensläufe in eins wirft. Daß mit einemmal nur noch zählen würde, wie einer den Moment zu nutzen wußte, ob er schieres Glück hatte. Trotzdem wurden Verträge und Ehen geschlossen, Pläne gemacht, Häuser gebaut. Als könnte man Gewißheiten schaffen. Warum also nicht eine Entscheidung fürs Leben treffen. Ja, dann mache ich das, dann werde ich Beiwächter. Schön, Jan, er war erleichtert und schenkte mir sogar einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln, bevor er mir bis ins Kleinste erklärte, was meine Aufgaben sein würden. Ich wunderte mich, wie er so schnell vertraut sein konnte mit der neuen Arbeit. Er mußte auch schon jede Ecke der Wohnung geprüft haben und warnte mich sogar vor losen Brettern auf dem Dachboden und davor, die Luken zu öffnen, weil sie sich leicht aus den Angeln heben konnten. Auch mit dem Bild der Stadt war er, schien es, schon vertraut. Er erklärte mir vom Umgang aus den Straßenverlauf, die Entfernungen, die Orte am Horizont und die Standorte der Feuerwachen. Die Sache fing an mir zu gefallen. Wenn man auf die Straßen um die Kirche sah, war man mehr als ein Mensch und doch noch nicht einmal ein Mensch. Die da unten liefen, dachten nicht daran, daß einer sie sieht, daß einer wacht für sie. Und wenn sie doch hoch sahen, dann nicht wie zu ihresgleichen, zu einem, der sie beobachtete und sah, was keiner sehen sollte. Sondern wie zu einem, der alles wissen darf, weil er doch von einer anderen Welt ist und nicht als Mitwisser zählt. Einer, dem man nicht zutraut, sich etwas dabei zu denken. Einer, der nur seine Pflicht tut und den es eigentlich gar nicht gibt.
Türmer. Roman
Wallstein Verlag, Göttingen 2006
ISBN-10: 3-8353-0042-3
ISBN-13: 978-3-8353-0042-2
Preis: 16,00 Euro